Festrede zum 120. Stiftungsfest

Festrede beim Stiftungsfestkommers am 20.06.2015 von Bbr. Dr. Heiko Fischer, Vorstandsvorsitzender der VTG AG:

Verantwortung und Wirtschaft in der globalisierten Wirtschaftswelt

Hohes Präsidium, sehr geehrte Farben-, Cartell- und Bundesbrüder, verehrte Damen, liebe Freunde,

hier zu stehen auf dem Kommers anlässlich des 120. Stiftungsfestes unserer lieben Gothia, um Sie und Euch mit meinen Gedanken zu „Verantwortung und Werten in der globalen Wirtschaftswelt“ vertraut zu machen, ist mir eine ausgesprochen große Ehre, zeigt mir jedoch auch, dass nun die Jugend, wenn auch vielleicht in Gestalt eines Gerade-Nicht-Mehr-Jungphilisters, endgültig entschwunden sein dürfte. Gemeinhin ist es ja den etwas reiferen Personen zugedacht, einer bereits in vollem Schwunge befindlichen Kommersfreude durch besinnliche Ansprache ein retardierendes Element der Kontemplation hinzuzufügen, bevor dann sangesfreudig die Stimmung wieder zu ungeahnten Höhen zu steigen vermag.

Besonders verzögernd auf Stimmung und das gelegentlich von einigen dringend herbeigesehnte „licet vagari“ waren zumeist ausladende Reden zu dem Wert und der immerwährenden Aktualität unserer Prinzipen in Verbindung und CV. Wie kam es aber dann, dass ich trotz der Erinnerungen aus meinen nun mehr als 25 Jahren als Gothe auf eigenen und fremden Stiftungsfesten zu so einem global-galaktischen Themenentwurf kam? War es vielleicht nur mein Wunsch, möglichst unverfänglich zu bleiben, als das Drängen von Senior und Phil-X zur Themenwahl wegen der Drucklegung des Programms immer mehr an Eindringlichkeit gewann? Wie auch immer. Auch für mich gilt: wer nicht rechtzeitig thematisch eingrenzt, muss dann nachher bei der Vorbereitung dafür büßen.

Über viele Einzelaspekte von “Verantwortung“ und „Werte“ lassen sich ganze Vorlesungsreihen in vielen Disziplinen der Wissenschaft füllen. Dies würde hier unweigerlich zu weit führen. Zum Philosophen eigne ich mich zumeist erst nach einem Kommers oder einer Kneipe, bevorzugt ab halb zwei Uhr morgens, und so möchte ich gleich vorwegschicken, dass es heute kein zweistündiges Verkünden ewiger Wahrheiten geben kann, sondern dass ich vielmehr versuchen werde, in der Mitte meines Berufslebens einige Gedanken und Erfahrungen anzureißen, die dann vielleicht Anstöße zur weiteren Diskussion in feucht-fröhlich-philosophischer Runde geben können. Wenn es mir dabei auch noch gelingt, einen Bezug zu den Lebenswirklichkeiten der hier versammelten Festkorona zu finden, so hoffe ich auf wohlwollende Rezeption und mehr erfreuten als erleichterten Beifall am Ende.

Anlässe für die Betrachtung der Verbindung von Wirtschaftsleben und wertorientierter, verantwortlicher Unternehmensführung sind nun beileibe nicht neu. Ganz besonders hat natürlich die Diskussion um Fehlentwicklungen der letzten zehn Jahre dazu geführt, dass sich namhafte Persönlichkeiten, wie zum Beispiel verschiedene Bundespräsidenten, moralische Autoritäten oder die Sprecher der gerade in Deutschland unvermeidlichen Kommissionen und runden Tischen, ausführlich mit dem Thema beschäftigt haben. Zumeist ging es dabei jedoch um Forderungen aus Staat und Gesellschaft nach Einhegung und Regulierung des als unkontrollierbar bis schädlich empfundenen Treibens von Großbanken und multinationalen Konzernen. Viel war in den letzten Jahren zu lesen über Grenzverletzungen und Grenzüberschreitungen von Unternehmen und ihrem Führungspersonal mit teilweise katastrophalen Folgen für die Unternehmen selbst, ihre Mitarbeiter und das Gemeinwesen inklusive des Steuerzahlers. Leider wurde bei all der Aufregung auch der Rest der Unternehmen und teilweise sogar unsere soziale Marktwirtschaft als Ganzes mit auf die Anklagebank gezerrt und gerne auch vorverurteilt. Ausgeblendet wurde nur zu gerne, dass die Fehlleistungen von verhältnismäßig wenigen Personen und Unternehmen begangen wurden – die Finanzbranche mal einmal vielleicht ausgenommen. In Deutschland allein gibt es mehrere Tausend Aktiengesellschaften mit zusammen etwa 15.000 Vorstandsmitgliedern. Daneben gibt es noch viel mehr in anderen Rechtsformen organisierte Unternehmen mit zum Teil den großen AGs vergleichbarer Unternehmensgröße. Zumeist wurde und wird hier gut und verantwortlich gewirtschaftet. Die Art und Weise, wie Deutschland durch die Krise gekommen ist, und die Wertschätzung, die deutsche Unternehmen und übrigens auch deutsches Management in der Welt genießen, spricht hier eine deutliche Sprache.

Dennoch wird in dem gegenwärtig vorherrschenden Meinungsklima aus voller Überzeugung nach staatlicher Aufsicht und der Regulierungskeule gerufen. Letztere wird seit Jahren auf allen Ebenen kräftig geschwungen, so dass man sich manchmal schon fragen muss, ob Politik und Verwaltung nicht nur allzu gerne das Heft des Handelns aus den Händen einer nationalen Einflüssen entrückten und für viele Politiker nur schwer verständlichen Wirtschaftselite zurückbekommen möchten. Dass sich dabei auch noch trefflich von eigenen Fehlern und Versäumnissen ablenken lässt, mag ein Übriges dazu tun.

Es ist aber heute nicht mein Auftrag, über Sinn und Unsinn von Regulierung oder die Notwendigkeit von mehr oder weniger Markt nachzudenken. Gegen Vorgaben des Gesetzgebers ist per se dann nicht viel einzuwenden, wenn die Regeln für alle gelten, nicht allzu viele handwerkliche Fehler enthalten und mit Augenmaß erstellt und durchgesetzt werden. Die Wirtschaft stellt sich dann darauf ein, fairer Wettbewerb ist möglich. Solange man davon ausgehen konnte, dass sich über Zeit das westliche Werteverständnis in immer größeren Bereichen der Welt durchsetzen würde, konnte man einigermaßen gut damit leben. Doch ist die Entwicklung so linear wie erhofft? Der Weg bereits vorgegeben und das Ziel in Sicht? Ich glaube: nein!

Seit sich die Nebel der unmittelbaren Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise zu lichten beginnen, müssen wir feststellen, dass sich die Welt quasi unter unseren Füssen gewandelt hat. Manche Vordenker sprechen bereits von einer Epoche, die durch den Verlust der letzten Gewissheiten gekennzeichnet ist. Also dem gefühlten Verlust an Sicherheit und Orientierung, der Zerstörung oder dem Sich-Selbst-Diskreditieren wichtiger Institutionen. Viele Themen sind nicht neu, kommen aber in einer Welt, die viel multipolarer geworden ist und einen schwindenden Einfluss einer geschwächten und zerstrittenen westlichen Hemisphäre feststellt, in ganz neuer Mächtigkeit auf uns zu. So haben u.a. Bevölkerungswachstum in einem, Demografieprobleme in einem anderen Teil der Welt und die sich nun gewaltig entwickelnden Migrationsprobleme, der Kampf um Zugang zu Rohstoffen, Ackerland und Wasser, ethnische und religiöse Konflikte, nicht nur rund um einen entfesselten und gewaltbereiten Islamismus, asymmetrische Kriege und Konflikte, um nur einige zu nennen, schon seit Längerem Kopfzerbrechen bereitet, doch bilden sie für mein Thema nur die Chaos-Kulisse, die Spielräume für Gegenmodelle zu unserem in mehr als 2.000 Jahren hart errungenen Gesellschaftsmodell mit seinen jüdisch-christlichen und humanistischen Wurzeln bereitet.

Im allgemeinen Überschwang nach dem Fall des Eisernen Vorhangs verdeutlicht die These des Amerikaners Francis Fukuyama vom „Ende der Geschichte“ nur zu deutlich die westliche Hybris und Fehlerwartung einer 100-jährigen Pax Americana mit anerkanntem Weltpolizist, kapitalistisch orientierter Marktwirtschaft, einem Primat der westlichen Wertvorstellungen und der Durchsetzung derselben, wann immer und mit welchen Mitteln auch immer es für den eigenen politischen oder ökonomischen Vorteil genehm war.

Wie schnell wir diesen Vorteil verspielt haben, wissen Sie hier im Saal genauso gut wie ich. Fehlgeleitete Wirtschafts- und Finanzpolitik, unkluge militärische und politische Interventionen, aber auch die Fehleinschätzung der Stärke, des Stolzes und des Willens aufstrebender Nationen und Regionen haben andere Akteure auf der Weltbühne gestärkt. Unsere immer stärker zu Tage tretende Uneinigkeit bzw. das immer stärkere Aufeinanderprallen unterschiedlicher individualistischer Lebensentwürfe in der westlichen Welt dient den Gegnern unserer freiheitlich-demokratischen Grundverfassung sogar als starker Beleg für die Unterlegenheit unseres Gesellschaftsentwurfes. Immer vehementer und selbstbewusster wird die vermeintlich für immer errungene Vorherrschaft der westlich geprägten Institutionen wie Demokratie, Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Freiheit und Sicherheit des Individuums sowie eine angemessene Bürgerbeteiligung in Frage gestellt. Der Wettbewerb der Staats- und Gesellschaftssysteme steigert sich mittlerweile zum offenen Konflikt. Nicht nur die alten und neuen Gegenspieler des Westens wie Russland und China gehen hier konsequent eigene Wege und definieren einen eigenen Wertekanon, der von teilweise sehr anderen Prämissen als der unsere geleitet wird. Auch langjährige Demokratien wie Indien und sogar EU-Mitglieder wie Ungarn gehen unter dem Deckmäntelchen des vermuteten Angriffs auf Souveränität, religiöse, kulturelle oder sittlich-moralische Werte gegen die Zivilgesellschaft, rechtsstaatliche Grundsätze und individuelle Freiheitsrechte vor und erlassen eine Vielzahl repressiver Gesetze. Von anderen Weltregionen wie Afrika, der arabischen Welt und Teilen von Südamerika gar nicht zu reden. Von einer Ausbreitung unseres Rechtsverständnisses und unserer Wertorientierung kann also zur Zeit nicht gesprochen werden. Die jüngste Studie der Washingtoner Denkfabrik „Freedom House“ bescheinigt der Demokratie als Regierungsform und damit auch dem bürgerlich-freiheitlichen Rechtsstaat die geringsten Akzeptanzwerte seit 1989. Wie ich meine ein Wendepunkt der Geschichte, denn damit ist der erträumte geradlinige Weg zu einem friedlichen Multilateralismus, einer friedlichen Koexistenz, unbeschwertem Freihandel und einer langsamen, aber stetigen Konvergenz der Lebensverhältnisse und Gesellschaftsformen bis auf weiteres nicht mehr gangbar.

Welche unternehmerische Herausforderungen erwachsen nun aus diesem „neuen Normal“ einer ständigen Abfolge von zum Teil gleichzeitigen Krisen, wachsender Unsicherheit und zunehmender Überstreckung und Überreizung der Institutionen, die die Welt seit dem 2. Weltkrieg zusammengehalten und handhabbar gemacht haben? Gerade nach der Finanzkrise haben Europa und Amerika an vielen Stellschrauben versucht, echte und vermeintliche Fehlentwicklungen der Vergangenheit durch neue und immer komplexere Regeln für die Zukunft zu verhindern. Soziale Themen wie Vielfalt, neudeutsch auch Diversity genannt, Minderheitenschutz, Inklusion, Risikovermeidung für die Gesellschaft und den Verbraucher an allen Fronten sowie umwelt- und klimaschützende Vorgaben treten neben politisch-korrekte Denkverbote, die wir uns selbst auferlegen. Die Regeln für gute Unternehmensführung (Corporate Governance) und die Verpflichtung zur Gesetzes- und Regeltreue (Compliance) sowie eine Vielzahl von Gesetzen und Verordnungen geben westlich beheimateten Unternehmen heute einen Rahmen an Pflichten und Verantwortungen mit teilweise extremer Strafbewehrung, der im Falle einer Rechtsverletzung durchaus zum Untergang des Unternehmens führen kann.

Die meisten größeren Unternehmen sind heute in vielfältigster Weise Teil der globalen Wertschöpfungskette und oft in einer großen Zahl von Ländern präsent. Damit unterliegen sie auch den jeweiligen Gesetzen und Normen. Je weiter diese Land für Land voneinander abweichen und je weniger man sich auf Rechtsstaatlichkeit, Vertragstreue oder ein gemeinsames Verständnis von Sozial- und Umweltstandards verlassen kann, desto schwieriger wird es für ein an einer westlichen Börse notiertes und den entsprechenden Regulierungen unterworfenes Unternehmen mit Hauptsitz in Deutschland die richtige Balance und den richtigen Weg zu finden.

Viele deutsche Mittelständler haben sich in den vergangenen Jahrzehnten der Welt geöffnet und im Vertrauen auf eine unaufhaltbare Entwicklung hin zu einer Welt, die auf allen Ebenen zusammenwächst, stetig expandiert und in vielen Bereichen Weltgeltung oder sogar Weltmarktführerschaft erreicht. Die vermeintlich schrankenlose Welt des 21. Jahrhunderts, in der alles vernetzt ist, ein großer Teil der Menschheit in direktem elektronischen Kontakt miteinander steht oder zumindest jederzeit stehen könnte, sollte hier doch eigentlich das Tor zu nie gekannter Produktvielfalt, weltweitem Preisvergleich ohne List und Tücke sowie zur ständigen Kontrolle aller Akteure durch staatliche und nichtstaatliche Organisationen führen. Damit wären auch Wettbewerbsnachteile zu multinationalen Großkonzernen geschwunden, die sich durch ihre Marktmacht immer auch besser gegenüber Regierungen durchsetzen können. Für Mittelständler geradezu paradiesische Aussichten: Sanfte Expansion mit überschaubarem Risiko; unterstützt durch verlässliche Ordnungsrahmen. Bis dann der Traum platzte, wie wir alle zuletzt in Russland schmerzlich feststellen mussten.

Mehr denn je zeigt sich an diesem Beispiel nun, dass andere Länder und Wirtschaftsräume unseren Weg so nicht nur nicht mitgehen wollen, sondern, um es ganz lapidar zu sagen, darauf pfeifen. Als Gegenentwurf entwickeln sie eigene Geschäftsmodelle für ihre Wirtschaft, die zum Teil gezielt unsere Überregulierung, Gutmenschenorientierung und die mannigfaltigen Einflussmöglichkeiten gesellschaftlicher und politischer Gruppen ausnutzen, um neben der eigenen Volkswirtschaft auch das eigene politische System zu befördern. Doch was ist die richtige Reaktion auf diese Herausforderungen?

Sollen wir unsere Werte aufgeben, aufweichen oder so geschickt interpretieren, dass der Pragmatismus zum obersten Prinzip erklärt wird und Unternehmen sich zumindest international wieder schrankenlos bewegen können? Keineswegs, meine Damen und Herren, liebe Bundesbrüder, denn dann hätten alle Systemkritiker Recht, die Wirtschaft als vom Gemeinwesen abgetrennten Raum begreifen, in dem Geschäftemacher sich abseits der sonstigen Teile der Gesellschaft in einem eigenen, teilweise rechtsfreien Bereich bewegen und lediglich auf kurzfristige Profite schielen. Dann gewännen eher die Unredlichen, die Hasardeure und Ausbeuter. Nein, zurück zum Manchester-Kapitalismus wollen wir bestimmt nicht.

Oder sollen wir uns von Freihandel, gemeinsamen Märkten, der globalen Arbeitsteilung abwenden und darauf hoffen, dass unser bisher erreichter Wohlstand lange genug ausreicht, um zufrieden und sorglos weiter zu leben. Wir könnten uns dann wunderbar und mit vermeintlich gutem Gewissen zurücklehnen und der Welt den moralischen Zeigefinger entgegenstrecken. Natürlich erscheint mir ein so urdeutscher Weg als Rückzug in ein neues Biedermeier ebenfalls nicht gangbar, zu sehr ist gerade Deutschland als Exportnation auf freien Fluss von Waren und Dienstleistungen angewiesen. Bevor sich also Etatisten, Globalisierungsgegner und Antimarktwirtschaftler nun genüsslich zurücklehnen und auf noch mehr Regulierung, Gängelung und Überwachung durch einen allmächtigen Staat und Abschottung gegenüber fremden Einflüssen und dem Rest der Welt drängen, seien sie gewarnt. Diese Sackgasse wurde bereits mehrfach erfolglos beschritten.

Aus meiner Sicht bleibt leider nur ein wahrscheinlich viel mühsamerer Mittelweg über, mit der ein heutiger Unternehmensleiter seiner Verantwortung gerecht werden kann. Unternehmer und Manager machen keine Gesetze, sprechen keine Urteile und verhandeln auch nicht die Sicherheitsarchitektur der Welt oder die Weltwirtschaftsordnung. Sie tun aber täglich etwas, was der altdeutschen Kaufmannssprache wohl entlehnt sein dürfte: Sie wägen ab. Zwischen all den möglichen Handlungsoptionen mit all den vorhersehbaren und nicht vorhersehbaren Konsequenzen. Vor dem Hintergrund des Zwecks des Unternehmens, seiner Strategie, dem in ihm steckenden Potential und den Ansprüchen der Eigentümer und der weiteren Stakeholder aus dem direkten Umfeld des Unternehmens. Gerade für deutsche Unternehmen heißt das hinaus in die Welt und sich trotzdem selbst dabei treu zu bleiben. Hierbei kommt es dann ganz besonders auf die Mitarbeiter und die angewandten Leitbilder zu Führung und Verantwortung an.

Ein väterlicher Freund sagte mir zu Beginn meiner Karriere einmal, dass ich nie vergessen möge, dass Wirtschaft von Menschen gemacht werde; nicht von Maschinen, Kapital, Systemen oder Organisationen. Auch nicht von Gesetzgebern, staatlichen Planern und ihren Kontrolleuren. Die Freiheit zum Unternehmertum bedeutet für mich in dieser Konsequenz eben auch, die Freiheit, Entscheidungen zu treffen und die Konsequenzen zu tragen. Natürlich gehören die Kardinalpflichten, dem Unternehmen durch gute Produkte und Dienstleistungen, stetige Innovation und der Weiterentwicklung eines betriebswirtschaftlich, finanzwirtschaftlich und juristisch nachhaltigen Organisationsrahmens den langfristigen Bestand zu sichern, zur Verantwortung des Unternehmenslenkers. Dies alles ließe sich sehr gut durch reine Innenorientierung und möglicherweise nahezu wertefreie Strebsamkeit und Optimierung erreichen.

Doch reicht das aus? Ich meine, eher nicht. Gerade unter unsicheren Rahmenbedingungen und sich im Zeitablauf schnell ändernden Ansichten und Urteilen der Öffentlichkeit fehlt ein wichtiges Element unseres Menschseins: das eigene Verantwortungsgefühl und die eigene Sittlichkeit. Als Unternehmenslenker hat man nach meiner Ansicht die Pflicht, sich selbst um seinen Wertekanon, seine Sittlichkeit und seine Sicht auf Recht und Unrecht sowie Gut und Böse zu kümmern und diese Grundeinstellungen ständig zu überprüfen und zu schärfen. Anschließend bedarf es einer unzweideutigen und eben nicht bigotten Ausrichtung des Unternehmens gemäß diesen Werten. Dabei kann das dann eben nicht heißen, Hochglanzbroschüren über Unternehmensleitbilder, Wertekodizes und Corporate Social Responsibility zu veröffentlichen und dann die Unternehmenseinheiten mit kurzfristigen monetären Zielvorgaben antreiben zu wollen, die nicht im Einklang mit dem in Sonntagsreden und Nachhaltigkeitsberichten Versprochenen stehen. Also ganz nach dem Leitsatz: „Es lebe das Postulat, aber das Postulat wird nicht gelebt“.

Wenn es heute so wenig Orientierung gibt und uns wie gezeigt der bloße Rückgriff auf Gesetze und Verordnungen nicht weiterhilft, benötigen wir andere Anhaltspunkte. Wahrscheinlich bedarf es hier eher einer Rückbesinnung auf schon lange gelebte Traditionen. Nachdem ich vor fast zwanzig Jahren nach Hamburg ausgewandert bin, hat mich dort die Jahrhunderte alte Kaufmannsethik und das Leitbild vom Ehrbaren Kaufmann nachhaltig beeindruckt. Diesen etwas altertümlich klingenden Begriff finden wir in der Geschichte nicht nur in Hamburg, sondern sowohl in norditalienischen als auch norddeutschen Kaufmannslehrbüchern seit dem 12. Jahrhundert. Doch seit 1517 bemüht sich die heute „Versammlung eines Ehrbaren Kaufmanns“ genannte Institution um die kaufmännische Selbstverwaltung der Hanse bzw. der Hansestadt Hamburg. Damit ist sie immerhin ein Jahr älter als die hierzulande besser bekannte Institution des Bayrischen Reinheitsgebots.

Interessanterweise sind die Leitsätze offensichtlich über die Zeit weitgehend gleich geblieben, auch wenn sie immer wieder sprachlich aktualisiert wurden. Zu den wichtigsten gehören der kaufmännische Handschlag mit vertraglicher Bindungswirkung, die freiheitliche und weltoffene Orientierung, das eigenverantwortliche Urteilsvermögen, die Vorbildfunktion nach innen und außen, die langfristig und nachhaltig angelegte Struktur der Unternehmensorganisation sowie der Geschäftsverbindungen, die eigene Verantwortung für die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung sowie das Vertreten dieser Werte auch im internationalen Geschäftsverkehr. Wer genau zugehört hat, konnte feststellen, dass hier von staatlichen Stellen gar keine Rede war. Allein aus der eigenen Einsicht und Verantwortung sind diese Verhaltensmaximen entstanden. Das klare Bekenntnis zur Freiheit der Person und zum Unternehmertum stellt sich also neben die bei uns so oft betonte Knute des Rechtstaats, die jedoch zumeist nur ex-post sanktionieren kann. Die Kaufleute von einst wussten wohl nur zu gut, dass auch aus eigenem Antrieb die predatorischen Elemente unseres Menschseins gezügelt werden müssen, um langfristig gedeihlich und vertrauensvoll Handel betreiben zu können.

Hieraus ergeben sich nach meiner Ansicht nun einige Ansatzpunkte für ein Handeln in heutiger Zeit. Im Vergleich zu alten Hanse sind die Herausforderungen nicht mehr skandinavische Könige oder Störtebekers Piraten und andere Freibeuter, sondern vielmehr die bereits angesprochenen globalen Herausforderungen sowie der Kampf der Kulturen und Gesellschaftssyteme.

Ganz konkret haben wir in dem von mir geleiteten Unternehmen versucht, uns über unsere Position selbst zu vergewissern und Handlungsmaximen für unsere weitere Entwicklung zu definieren. Die Ursprünge der Wertvorstellungen der 1951 gegründeten VTG orientieren sich weitgehend an traditionellen deutschen Prinzipien, wie Beständigkeit, Sicherheit, Qualität und Zuverlässigkeit. Allerdings entwickelten sich auch diese Werte im Zeitverlauf weiter. So hatten und haben die sich wandelnde Unternehmensumwelt und Öffentlichkeit, Fusionen und Übernahmen, Wechsel in den Eigentumsverhältnissen, die internationale Expansion, aber auch der Wandel der Einstellungen unserer Mitarbeiter einen direkten Einfluss auf die Wertvorstellungen der VTG. Neue Aspekte wie Agilität, unternehmerisches Denken und Handeln, Kundenorientierung sowie Wertschätzung und Respekt sind deshalb vor einiger Zeit mit in die Wertestruktur der VTG eingebaut worden.

Es ist sicher mühsam, solche Diskussionen im Unternehmen zu führen und neben dem oft aufreibenden Tagesgeschäft Workshop-Runden, Werteforen und Werteverankerungskampagnen zu veranstalten. Und glauben Sie mir, zunächst ging ein Aufstöhnen durch die Organisation: „Auch das noch, jetzt spinnt er, der Alte“. Doch die sehr hörbare Kritik ebbte Woche für Woche ab, mehr und mehr gab es aus den einzelnen Abteilungen und Gesellschaften des Konzerns positive Rückmeldungen: Ach so sehen wir das; darum machen wir das so und nicht anders; jetzt verstehe ich hier draußen endlich, wie andere Bereiche des Unternehmens oder die Hamburger Zentrale ticken und wie ich mich verhalten soll.

Es wurde erneut deutlich, dass ein langfristig erfolgreiches Unternehmen dann eben doch eine Wertegemeinschaft bildet, auch wenn wir diese Gemeinsamkeiten nicht mehr nur in einem deutschen Kontext erfahren konnten, sondern erst mühsam über Länder- und Kulturgrenzen herausarbeiten mussten. Bei Personalauswahl und der Weiterentwicklung der Führungskräfte und Mitarbeiter ist gerade die Werteorientierung von entscheidender Bedeutung. Langfristig hat wohl jedes Unternehmen eine Belegschaft, die es verdient. So manch untergegangenes oder skandalgeplagtes Unternehmen mag hiervon ein Lied singen.

Gelebte Werte sind für uns eine unbedingte Voraussetzung, um sich in einer globalisierten Wirtschaftswelt sicher und verantwortungsbewusst bewegen zu können. Sie bilden die Basis für eine starke Unternehmenskultur und fungieren als verbindendes Element zwischen den Menschen an Standorten in vieler Herren Länder. Trotz und vielleicht gerade wegen des globalen Wettbewerbs wollen wir weiter an unseren Werten festhalten, denn sie bilden für uns ein Bindeglied zwischen den abstrakten regulatorischen und rechtlichen Anforderungen aus verschiedensten Jurisdiktionen und unserem täglichen Handeln. In Zeiten ohne unumstrittene Institutionen und allgemeingültige Regeln des globalen Wirtschaftslebens helfen sie uns bei der Navigation zwischen den unzähligen Möglichkeiten unserer Zeit.

Dieser für mich wichtigsten Verantwortung der Wertevermittlung nach innen steht die fast ebenso wichtige nach außen gerichtete Beteiligung an der öffentlichen Wertediskussion gegenüber. Unternehmer sind in der Regel sehr zurückhaltend, wenn es um öffentliche Auftritte rund um diese Themen geht. Häufig bestreiten Politiker und Lobbyisten die meisten öffentlichen Diskussionen alleine. Nur zu wenigen Reizthemen, oder wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist, vernimmt man auch einmal eine andere Stimme. Trotz aller vermeintlichen Macht und Statur ziehen es zu viele vor, sich nicht ins Rampenlicht zu stellen und der Gefahr der Kritik oder der Lächerlichkeit auszusetzen. Auch aus arbeitsrechtlichen und haftungstechnischen Gründen ist hier dann, wenn überhaupt, allenfalls eine Privatmeinung zu hören. Als kurzes Beispiel mögen hier die beiden gerade intensiv verhandelten Handelsabkommen zwischen der EU einerseits und den USA bzw. Kanada andererseits herhalten. Da kaum jemand etwas genaueres darüber weiß, schießen die Mutmaßungen und Halbwahrheiten ins Kraut, tendenzielle Berichterstattung und Meinungsmache sind von allen Seiten Tür und Tor geöffnet. Es wäre im Sinne meines Vortrages, wenn hier mehr Unternehmen und Unternehmer klar Position beziehen würden, auch wenn vielleicht der ein oder andere hier erst selbst seine Hausaufgaben machen müsste. Die wesentlichen Punkte dieser beiden Abkommen sind so oder ähnlich in vielen bereits abgeschlossenen Abkommen enthalten und könnten Blaupause und Richtschnur sein für die weltweit ebenfalls laufenden Verhandlungen mit gerade den Staaten, die ich eingangs meiner Ausführungen als für die Stabilität der Welt sowie faire und rechtssichere Handelsbeziehungen zumindest unsichere Kantonisten bezeichnet habe. Wie zu Zeiten des kalten Krieges, als teilweise nur über den Ostausschuss der deutschen Wirtschaft Kommunikation durch und hinter den Eisernen Vorhang möglich war, könnten somit Brücken gebaut und Wandel durch Handel ermöglicht werden. Hier müssen sich Unternehmen meines Erachtens deutlich vernehmbarer einbringen.

Liebe Bundesbrüder, sehr geehrte Anwesende, nach meiner Ansicht kann man für Werte nicht streiten, sondern man kann sie nur vorleben. Nur dann erhalten sie Strahlkraft und verleiten zur Nachahmung. Auf die Wechselfälle der Weltpolitik, der Globalisierung und einem konstruktiven Miteinander der Menschheit haben einzelne Unternehmen nur sehr eingeschränkt Einfluss. Wenn aber Kaufleute wie zu Zeiten der Hanse einen untadeligen Wertereigen durch ihre Kontakte in die Welt tragen könnten, würden sie ihrer Verantwortung auch außerhalb ihres Unternehmens und für unsere Welt ein gutes Stück mehr gerecht.

Wenn ich nun die mit Ihnen und Euch soeben geteilten Reflexionen über Verantwortung und Werte zusammenfasse, sollte es offensichtlich sein, dass es sich nicht um eine Analyse philosophischer Konzepte zum Wesen der Verantwortung handeln konnte, auch wenn ab und zu vielleicht ein wenig Immanuel Kant durchschimmerte. Sicherlich bleiben mehr Fragen offen, als beantwortet werden konnten. Vielleicht ist das auch mit all den Unzulänglichkeiten eines erst in der Mitte seines Lebens stehenden kleinen Gothen völlig unvermeidlich.

Ich hoffe jedoch, dass deutlich geworden ist, dass ich gerade in unseren unruhigen und richtungslosen Zeiten die Verantwortung für die Grundwerte eines Unternehmens und ihre Anwendung im Unternehmensalltag nach innen und außen direkt bei der Unternehmensspitze angesiedelt sehe. Die Verteidigung der unternehmerischen Freiheit und unseren gesellschaftlichen Überzeugungen beginnt auch bei der Art und Weise wie wir sie selbst leben. Über mich und meine Leistungsbilanz mögen und dürfen andere urteilen. Ich bin mir jedoch sicher, dass ich die doch immer mal wieder hereintröpfelnden positiven Rückmeldungen zu meinen Einstellungen und den Impulsen, die ich dem von mir geleiteten Unternehmen im Laufe der Jahre geben konnte, zu einem sehr großen Teil meiner Familie, inklusive der Gothenfamilie – denn da gibt es ja bekanntlich große Überlappungen – verdanke. Die hier erfahrenen und gelebten Werte haben mir ein jederzeit festes Wertegerüst vermittelt und damit einen unersetzlichen Startvorteil bis zum heutigen Tage mitgegeben. Allen von Euch, die mich in diesen Jahren auch, wenn es sein musste, kritisch begleitet haben, sage ich hier von Herzen vielen Dank und vergelt’s Gott.

Hohe Festcorona, da es nun doch ein ganz klein wenig eine Prinzipienrede geworden ist, danke ich Euch und Ihnen für die vorbildliche Aufmerksamkeit, wünsche ein weiterhin rauschendes Jubelstiftungsfest und entbiete Euch allen ein donnerndes „Vivat, crescat, floreat Gothia ad multos annos!“

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