Predigt zum 120. Stiftungsfest

Predigt beim Stiftungsfestpontifikalamt am 21.06.2015 von Bbr. Dr. Gregor Maria Hanke OSB, Bischof von Eichstätt:

Im starken Wellengang die Sehnsucht nach mehr wecken

Das heutige Evangelium vom Boot der Jünger im Seesturm mag ein passendes Bild liefern für die Deutung unserer Gegenwart: kirchlich, politisch und gesellschaftlich.

Nur eine kurze Flugzeit von uns entfernt finden Kämpfe statt, die, so fürchten nicht wenige, irgendwann bis in die Mitte Europas Auswirkungen haben könnten: der Konflikt im Osten der Ukraine, der sogenannte „Islamische Staat“ und der brutale Krieg in Syrien und im Irak, der unzählige Menschenleben kostete und gerade auch unseren Schwestern und Brüdern im Glauben viel Leid zufügt.

Das auf ein Wirtschaftsunternehmen geschrumpfte Vereinte Europa, das um seine Zukunft kämpft. Europa, das einst als Luxusliner geplant war, ist im Seegang der Nationalpolitik zum schwankenden Kutter geworden.

Starker gesellschaftlicher Wellengang

Einem starken Wellengang ist hierzulande die innerkirchliche Landschaft ausgesetzt. Im Blick auf die kommende römische Synode werden Aspekte der kirchlichen Ehelehre und Sexualmoral kontrovers diskutiert.

Eine Herausforderung stellt für uns Katholiken die derzeitige gesellschaftliche Diskussion über Ehe und Familie dar, die teilweise an das christliche Menschenbild rühren. Der in unserer Verfassung festgeschriebene Schutz von Familie und Ehe als Keimzelle der Gesellschaft, wird als diskriminierend für andere Lebensentwürfe empfunden, weil die Ehe die Realisierung der Verbindung von Mann und Frau ist.

Der Schutz des menschlichen Lebens könnte eine weitere Aushöhlung erfahren, wenn zu den bereits geschlagenen Breschen in der Biotechnik noch eine breitere Akzeptanz des assistierten Suizids hinzukäme.

Radikaler Individualismus

Ein wahrhaft stürmischer Wellengang. In einer aufgeheizten gesellschaftlichen Atmosphäre gelingt es der vom christlichen Glauben und der philosophischen Tradition gestützten Vernunft vielfach nicht mehr, die an die Würde des Menschen gebundenen Werte zu vermitteln.[ref]Vgl. Benedikt XVI., Ansprache bei der Generalaudienz am 16. Dezember 2009.[/ref] Stattdessen werden die Mehrheitsmeinung bzw. der gesellschaftliche Konsens zum Letztkriterium.

Eine zunächst im Namen der individuellen Freiheit und Gleichheit geführte Kritik an religiöser Tradition, Kulturleistungen sowie gesellschaftlicher Überlieferungen und Konventionen ist europaweit dabei, sich zu radikalisieren, so dass im Namen eines immer aggressiver werdenden Gleichheits- und Antidiskriminierungsanspruchs die Pfeiler der ursprünglich verteidigten Freiheit und Gleichheit selbst gefährdet erscheinen.[ref]Vgl. Udo di Fabio, Die Kultur der Freiheit, München 2005, 6-7.[/ref]

Was einst als Einsatz für die individuelle Freiheit seinen Ausgang nahm, steht in Gefahr, in eine Diktatur des Relativismus zu münden, in der kein anderes Maß Anerkennung findet als das eigene Ego und seine Bedürfnisse. Papst Franziskus sieht durch diese Entwicklung nicht nur den Menschen, sondern den Menschen in seiner Vernetzung zum Gesamt der Schöpfung, also die Humanökologie gefährdet.[ref]Vgl. Franziskus, Laudato si 5-6.[/ref]

Glaube verliert an Bedeutung

Vielleicht ist mancher unter uns verunsichert und misst dem katholischen Verbindungswesen über das Gesellige hinaus kaum noch weitere Bedeutung zu. Christsein, Glied der Kirche zu sein, wird von vielen als Einschränkung des Lebens, als Minderung der Lebensqualität gedeutet. Die säkulare Gesellschaft scheint uns Christen zudem zu beweisen, dass das alltägliche Leben auch ohne den Glauben der Kirche ganz gut funktioniert.

Derzeit bin ich zu Firmungen unterwegs. Manche Pfarrer und pastorale Mitarbeiter bezeichnen den Firmgottesdienst in bitterer Ironie als Abschiedsgottesdienst, als liturgisch gefeierten Beginn einer Auszeit, die bis zur Trauung oder zur Taufe des ersten Kindes oder gar länger währt. Erlebt man das Verhalten vieler Eltern und Paten der Firmlinge bei den Firmgottesdiensten, ist man geneigt, den Glauben mit dem besten Geschirr im Esszimmerschrank zu vergleichen. Man holt es allenfalls für besondere Anlässe hervor, im täglichen Leben ist es nicht zu gebrauchen.

Wie kann man sich als Christ in diesem Wellengang verhalten? Die Jünger des heutigen Evangeliums erscheinen nicht gerade mutig, aber sie bleiben zumindest im Boot. Sie beginnen nach dem Herrn zu rufen aus Angst. Und Angst ist gewiss kein guter Weggefährte. Andererseits war die Sehnsucht nach Leben in ihre Angst eingeschlossen wie eine Muschel in die Muschelschale: Kümmert es dich nicht, dass wir zugrunde gehen?

Der Sehnsucht nach wahrem Leben Raum geben – Deum quaerere

Diese Sehnsucht nach Leben bewegt sie, lässt sie einen Ausweg suchen. Den Weg, der Christus ist. Sehnsucht nach wahrem Leben ist die Kehrseite der Gottsuche. Quaerere deum – nach Gott suchen kann derjenige, der sich mit Vorhandenem nicht zufrieden gibt und von Sehnsucht nach mehr erfüllt ist!

„Die Welt ist nicht genug“, so lautet der Titel eines James Bond Films[ref]James Bond 007 – Die Welt ist nicht genug (Großbritannien / USA 1999).[/ref]. Der Titelheld wird von Elektra gefangen, die die Weltherrschaft an sich reißen will und um Bonds Mithilfe wirbt. Er verweigert sich und soll nun getötet werden. „Ich hätte dir die Welt schenken können“, sagt Elektra dem gefesselten Helden. Er antwortet darauf verächtlich: „Die Welt ist nicht genug!“

Diese Antwort ist für eine kurze Szene in einem Action-Film viel zu schade. Sie stünde uns Getauften gut an, denn es gibt mehr, nach dem wir Sehnsucht haben dürfen. Nur wofür man sterben kann, dafür kann man auch leben!

Selbst diejenigen, die noch keine Sehnsucht verspüren, können von ihr erfasst werden, wenn sie erst einmal begreifen, dass in dieser Welt „alles eine Nummer zu klein“ geraten ist, wie es Kurt Tucholsky einmal ausgedrückt hat.[ref]Kurt Tucholsky, Gefühle, in: Kurt Tucholsky, Mit 5 PS, Berlin 1927, 343-344.[/ref]

Papst Franziskus ermuntert uns unermüdlich zur Evangelisierung. Im ersten Schritt bedeutet der Auftrag zu evangelisieren nichts anderes als den Menschen zu helfen, ihre wahren Sehnsüchte zu entdecken, um sie dann bis zur Erkenntnis zu begleiten, dass Gott die personale Antwort darauf, die Erfüllung dieser Sehnsüchte ist.

Ein auf christlichen Prinzipien gründender Lebensbund wie der unserige braucht in seinem tiefsten Grund ein Sehnsuchtspotential nach dem wahren Leben Gottes. Zumindest muss es stets einige geben, die diese Dimension im Verbindungsleben durch ihre Haltung wach halten. Fehlt diese Dimension, verkümmern Verbindungen, kirchliche Verbände oder Pfarrgemeinden zu Orten oberflächlicher Folklore oder reiner Gruppendynamik, Prinzipien werden zu Rechthaberei.

Deum quaerere – Gott suchen. Die Welt ist nicht genug – auch meine kleine Welt nicht!

Als Mitglieder einer katholischen Verbindung haben wir in diesen bewegten Zeiten als Menschen der Sehnsucht zu leben. Wecken wir aber die Sehnsucht nach wahrem Leben auch in anderen um uns.

Gott suchen schafft eine lebenswerte Kultur

Papst Benedikt explizierte bei seiner Begegnung mit Vertretern des kulturellen Lebens in Paris am Beispiel des Mönchtums, wie die innere Sehnsucht nach mehr, wie das quaerere Deum den Menschen über sich hinaus zu Gott führen kann und wie erst daraus eine lebenswerte Kultur erwächst, getragen von der Anerkennung der Würde und dem Wert des Menschen.

Da ist zunächst … ganz nüchtern zu sagen, dass es nicht Absicht der Mönche war, Kultur zu schaffen oder auch eine vergangene Kultur zu erhalten. Ihr Antrieb war viel elementarer. Ihr Ziel hieß: quaerere Deum. In der Wirrnis der Zeiten, in der nichts standzuhalten schien, wollten sie das Wesentliche tun – sich bemühen, das immer Gültige und Bleibende, das Leben selber zu finden. Sie waren auf der Suche nach Gott. Sie wollten aus dem Unwesentlichen zum Wesentlichen, zum allein wirklich Wichtigen und Verlässlichen kommen. … Sie suchten das Endgültige hinter dem Vorläufigen.“[ref]Benedikt XVI., Ansprache bei der Begegnung mit Vertretern aus der Welt der Kultur am 12. September 2008 in Paris.[/ref]

Die Sehnsucht im Menschen lässt ihn die gesamte Wirklichkeit als etwas wahrnehmen, das anziehend ist und eine Erwartung weckt, die diese Wirklichkeit selbst nicht erfüllen kann. Die Wirklichkeit als Zeichen, das über sich hinausweist auf etwas, das dauerhaft ist. Diese Sehnsucht verwehrt dem Christen, sich einzuschließen und abzukapseln von der Welt oder einen Scheinrealismus zu propagieren, der sich von vorneherein mit wenig zufrieden gibt, um nicht enttäuscht zu werden.

Liebe Cartell- und Bundesbrüder, liebe Schwestern und Brüder! In unserem Miteinander und in unserer Beziehung zur sogenannten Welt dürfen sich folglich religio und scientia – Glaube und Wissenschaft – sowie religio und patria – Glaube und Vaterland, womit auch die Gesellschaft gemeint ist, in der wir leben – gerade nicht feindlich gegenüberstehen.

Wo die Sehnsucht nach wahrem Leben Raum findet, ob in der Gesellschaft, in einer Gemeinschaft oder im persönlichen Leben, eröffnet sich dem Mensch der Weg zur Herzensbildung, er findet schließlich zu seiner wahren Identität. Unsere Verbindungen mit der Vielfalt der Fächer und Ausbildungen können Orte einer christlichen Kultur sein, wo das Gespräch mit der Gesellschaft und der Welt stattfindet.

Wir dürfen unsere vier CV-Prinzipien im Lichte von Gaudium et spes deuten, jenem Dokument des II. Vatikanums, welches das Verhältnis von Kirche und Welt in unserer Zeit beschreibt. Christlicher Glaube ist kein Kultur- und Bildungsprojekt eines in sich abgeschlossenen Milieus, sondern muss dialogfähig bleiben mit der Welt, zu der wir gehören. Der Christ muss die Wirklichkeit wahrnehmen, die aber nicht für sich, sondern für Größeres steht. Erst aus diesem Dialog mit der Wirklichkeit heraus vermag der christliche Glaube verändernde Wirkungen zu entfalten. Glaube als lebendige Beziehung mit Christus in Gemeinschaft mit den Brüdern und Schwestern befähigt zu öffentlichem und politischen Handeln, zur Gestaltung der Kultur.

Maßnehmen an Gott

In Psalm 34 zeigt uns der Psalmist die Verwandtschaft zwischen der Sehnsucht nach Gott und dem Ordo Gottes. Er ruft aus: „Wer ist der Mensch, der das Leben liebt?“, um dann mit den Imperativen fortzufahren, die dem Menschen der Sehnsucht gelten: Meide das Böse, und tu das Gute; suche Frieden, und jage ihm nach! Die Gottsuche will, so wie ein Fluss zum Meer drängt, in die Ordnung der Liebe und Gerechtigkeit Gottes einmünden.

Als Jüngerinnen und Jünger Jesu sind wir überzeugt, dass jede Veränderung im Sinne wahrer Menschlichkeit dort geschieht, wo Maß an Christus, dem lebendigen Wort Gottes, und der Schöpfungsordnung Gottes genommen wird. In dieser Ordnung der Liebe[ref]Vgl. Franziskus, Laudato si 77.[/ref] wird der Mensch wieder in seine Rechte und Pflichten eingesetzt und der Gefahr der Hybris enthoben

Halten wir uns vor Augen, welche Kraft sich im Leben von zwei jung verliebten Menschen entfaltet. Denn der Weg der Sehnsucht nach Gott lässt sich damit vergleichen. Die alltäglichen Dinge des Lebens erhalten für die Verliebten eine neue Bedeutung. Beide sehen mehr als die Menschen um sie herum. Die Kraft, die sich zwischen beiden entfaltet, geht in die Tiefe des Lebens. Diese Kraft der Liebe bildet den Rahmen für die Dinge und Ereignisse des Lebens.

So verhält es sich auch mit der Nachfolge Jesu. Wer Christus nachfolgt, an ihm Maß nimmt und darauf aus ist, ihm ähnlich zu werden, der nimmt die Welt anders wahr. In der Gottesbeziehung entfaltet sich eine Kraft, die spürbar in das eigene Leben eindringt. Dann geht es nicht mehr darum, mir eigentlich fremde göttliche Gesetze zu befolgen, sondern dann zeigt sich, dass Gottes Ordnung der Liebe tatsächlich meiner inneren Sehnsucht entspricht.

Wer glaubt, sieht mehr! Er erkennt, dass der Herr im schwankenden Boot des eigenen Lebens anwesend ist. Er schläft nicht, sondern er ist ein aktiver Mitspieler!

Sehnsucht nach Gott wecken

Wenn wir also den in der verbreiteten Gottesvergessenheit gründenden starken gesellschaftlichen Wellengang in den Blick nehmen, dann kann die Lösung nicht darin bestehen, den Wind anzuschreien oder sich resigniert in eine Ecke des Bootes zu kauern. Vielmehr gilt es, die Sehnsucht nach mehr wieder zu wecken, die Sehnsucht, die sich nicht mit dem Vorhandenen begnügen will.

Die Antwort auf den heftigen Wellengang um uns herum ist daher die Neuevangelisierung, aus der eine Zivilisation der Liebe[ref]Vgl. Paul VI., Pfingstansprache nach dem Regina Coeli am 17. Mai 1970.[/ref] und eine menschenwürdige Gesellschaft erwächst.

Wecken wir also die Sehnsucht nach dem wahren Leben – in uns selbst und in den Menschen um uns herum.

Amen.

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